Ein leidenschaftliches Plädoyer für zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie hielt Professor Dr. Michel Friedman beim Schulpolitischen Aschermittwoch des Schulreferates und Referates für Berufskollegs im Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region. Superintendent Markus Zimmermann begrüßte den Journalisten, Philosophen und Juristen sowie zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter von Schulen und der Schulaufsichtsbehörden im Haus der Evangelischen Kirche. Friedman sprach zum Thema „Demokratie in Gefahr – worauf es jetzt ankommt“. Schule habe eine Neutralitätspflicht, „aber kein Mensch ist neutral“, erklärte er gleich zu Beginn.
Was könne man tun in einer Welt, in der 40 Prozent aller Schüler nicht wüssten, was in Auschwitz geschehen sei, und 60 Prozent TikTok als einzige Informationsquelle nutzten? Da sei die Lüge Prinzip, und auf X würden Weltbilder erschaffen, die mit der Realität nichts zu tun hätten. „Die meisten Lügen haben demütigende Konzepte“, fuhr Friedman fort. „Ich bin Hochschuldozent. Deshalb haben Sie als Lehrkräfte meine volle Solidarität. Aber Sie sind strukturell nicht in der Lage, Ihre Aufgaben zu erfüllen“, wandte sich der Redner an sein Publikum. Viele Schulen stünden kurz vor dem Zusammenbruch. Bildung für alle, in der Herkunft keine Rolle spiele, sei eine große Lüge im Schulsystem.
„Ich kam als Kind aus Frankreich nach Deutschland und bin durch eine Deutschlehrerin extrem gefördert worden. Sonst stünde ich heute nicht vor Ihnen. Das war ein Zufall. Aber Förderung in dieser Art darf kein Zufall sein. Bildungsgerechtigkeit gibt es bei uns nicht.“ Es gebe so viele Kinder aus so vielen Ländern in den Schulen. Da müsse man Brücken bauen. Dazu brauche es Kompetenzen, die in der Lehrerausbildung nicht vorgesehen seien. Da gehe es in erster Linie darum, den Satz des Pythagoras zu vermitteln. Fragezeichen seien wichtiger als Ausrufezeichen. „Wir brauchen Respekt vor dem Argument, nicht vor der Meinung. Das muss einhergehen mit einer anderen Streitkultur. Wie können wir Kindern Demokratie lehren? Wie fördern wir Widerspruch?“
In der Master-Ausbildung würden Multiple-Choice-Tests die Hauptrolle spielen, in Komplexitäten würde nicht mehr gedacht. Da sei nicht mehr das Großhirn gefragt, sondern das fotografische Gedächtnis. Zurzeit erlebten alle die Auflösung der Nachkriegsordnung. „Das Recht der Schwachen auf Schutz ist Geschichte. Das Schlaraffenland Deutschland ist vorbei. Krieg ist Realität.“ Das alles sei ein Rückschritt in die Zeit vor Immanuel Kant. Jeder und jede, die heute 20 Jahre alt seien, habe eine Covid-Erfahrung. Jeder und jede unter 20 habe die Erfahrung gemacht, dass eine rassistische Partei im Bundestag sitze.
Im Übrigen könnten auch Lehrer islamophob sein. „Wenn man denen im Lehrerzimmer zögerlich begegnet, wie soll man dann auf dem Schulhof konsequent reagieren?“ Streit sei wichtig mit den Feinden der Freiheit. „Ich liebe die Freiheit. Sie nicht. Wir müssen streiten.“ Merz und Scholz müssten nur ihren Job machen. „Demokratie ist unser Job.“ Wenn es weitergehe wie bisher, werde es Freiheit, Gleichheit und freie Wahlen in einigen Jahren nicht mehr geben. Friedman prangerte Dekadenz in den westlichen Demokratien an. 2027 werde in Frankreich gewählt. Marine Le Pen habe gute Chancen auf die Präsidentschaft.
Lehrer und Lehrerinnen hätten einen Traumberuf, der ohne psychologische Begleitung kaum mehr auszuüben sei. Friedman forderte, Kinder zu kompetenten Demokraten zu erziehen. „Wir brauchen ein System, das Selbstbestimmung nicht verbietet.“ Handys hätten in der Schule nichts zu suchen. Sie bedeuteten die „totalitäre Übernahme unserer Kinder.“ Einen Streit zu vermeiden, sei nicht Harmonie. Haltung sei entscheidend. „Wer harmonisch ist, muss keine Haltung haben.“ Superintendent Zimmermann bedankte sich beim Referenten für die „klaren Botschaften und Wahrheiten“. „Sich selbst ermächtigen und Widersprüche aushalten ist wichtig.“
Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann
Der Beitrag „Wer harmonisch ist, muss keine Haltung haben“ – Michel Friedman sprach beim Schulpolitischen Aschermittwoch über die Demokratie in Gefahr erschien zuerst auf Evangelischer Kirchenverband Köln und Region.