Die ForuM-Studie hat die Evangelische Kirche in ihren Grundfesten erschüttert. „Die nächsten Schritte für uns sind die gründliche Lektüre der umfangreichen Texte der ForuM-Studie und der Austausch darüber auf allen Ebenen unserer Kirche, von der Kirchenleitung bis in die Presbyterien und Mitarbeiterkreise. Unsere Aufgabe heißt jetzt zuerst: lernen und verstehen. Dann werden wir sehen, welche Rahmenbedingungen wir in unserer Kirche ändern müssen, um gute Lösungen zu finden, die betroffenen Menschen jetzt sinnvoll helfen und sexualisierte Gewalt im Raum unserer Kirche in der Gegenwart und der Zukunft verhindern“, sagte Stadtsuperintendent Bernhard Seiger bei der Vorstellung der „ForuM-Studie“ im Januar.
Den Auftakt zu ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema machte die Melanchthon-Akademie mit der Veranstaltung zum Thema „Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche“. Eingeladen waren Claudia Paul, Ansprechpartnerin für Betroffene und Intervention bei der Evangelischen Kirche im Rheinland, Dr. Thomas Zippert, evangelischer Theologe, der in der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck wegweisende Arbeit zu den Themen Missbrauch und Prävention geleistet hat, und Matthias Schwarz, Pfarrer und selbst Betroffener, da er als Jugendlicher von seinem Gemeindepfarrer missbraucht worden war.
„Zuhören, Zuhören, Zuhören“
Akademieleiter Martin Bock beschrieb in seinen einleitenden Worten die Dimension des Themas: „Wir sehen bis jetzt wohl nur die Spitze der Spitze des Eisbergs.“ Jetzt gelte „Zuhören, Zuhören, Zuhören. Konsequenzen ziehen, Konsequenzen ziehen, Konsequenzen ziehen. Anerkennen, Anerkennen, Anerkennen.“ Auf der evangelischen Kirche liege ein dunkler Schatten. Sie müsse ihr Selbstbild hinterfragen. „Wir müssen uns auf den Weg machen zu einer traumasensiblen Kirche.“
„Das Beste ist, dass Sie alle gekommen sind“, sagte Dorothee Schaper, Referentin der Akademie und Frauenbeauftragte des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region. Man wolle gemeinsam festlegen, welche Themenfelder in naher Zukunft zu bearbeiten seien. „Es gibt die Kirche der Täter und die Kirche der Betroffenen. Es gibt die Kirche der Kirchenleitenden und die Kirche ist die Kirche, die Machtmissbrauch aufzuarbeiten hat.“
Matthias Schwarz verwies darauf, dass die Kirche die Täter lange geschützt und versteckt habe. Gut sei, dass die Kirche die Ergebnisse der Studie nicht ignorieren könne. „Jetzt muss man hingucken. Aber bei dem, was die Kirchenleitenden sagen, wird mir dreimal übel.“ Entweder heiße es „Asche auf mein Haupt“ oder man wolle für die Betroffenen da sein und man sei mit ihnen ja auch ganz anders umgegangen als andere Kirchen.
Schwarz hat ein „Wettrennen“ bei der Entwicklung von Präventionskonzepten ausgemacht. Er sprach an dem Abend offen über seine Erfahrungen als Jugendlicher, der von seinem Gemeindepfarrer missbraucht wurde: „Mein Täter ist auch geschützt worden, von seinen Vorgesetzten und deren Vorgesetzten. Es hat nach meinem Hinweis noch nicht einmal einen Eintrag in die Personalakte gegeben. Der war 30 Jahre lang in der Gemeinde tätig. Man kann wohl von 40, 50 weiteren Betroffenen ausgehen.“ Die Gemeinde sei bis heute zerstritten. Eine Hälfte halte ihn weiter für den besten Pfarrer, die andere Hälfte wolle mit der Kirche nichts mehr zu tun haben. Daraus folgernd stelle er die Frage: „Wie geht Kirche mit den Betroffenen um?“ Die Antwort ist für ihn sehr klar: „Sie bringen das Gewohnte durcheinander. Das ist gut so. Dann muss man nämlich neu sortieren.“ Der Umgang müsse klar und transparent sein.
Der Täter habe in diesem Fall schließlich von seinen Vorgesetzten die Auflage erhalten, sich schriftlich zu entschuldigen. Das habe dieser unterlassen und seinem Opfer schließlich erklärt, wenn der dem Täter nicht vergebe, werde er – theologisch gesehen – selbst zum Täter. Matthias Schwarz beendete umgehend den Kontakt mit dem abschließenden Satz: „Kinderschänder sind vom Reich Gottes ausgeschlossen.“
„Wir haben gedacht, dass wir gute Präventionskonzepte haben, die Missbrauch verhindern“
Claudia Paul stellte sich vor als Ansprechpartnerin der Landeskirche im Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung. In dieser Funktion arbeitet sie seit 13 Jahren. Sie habe sich trotz allem über die Studie gefreut. „Es sind nicht nur die Katholiken. Wir auch. Da müssen wir uns von Arroganz schleunigst verabschieden. Und jetzt müssen wir darüber reden. Auch wenn uns das so schwerfällt. Wir haben gedacht, dass wir gute Präventionskonzepte haben, die Missbrauch verhindern.“ Schon vor Veröffentlichung der Studie seien die Beratungszahlen in ihrer Einrichtung gestiegen, danach noch mehr. „Die Meldepflicht setzt die Betroffenen unter Druck. Das Tempo bestimmen die Betroffenen.“
Thomas Zippert nannte die Ergebnisse der Studie „das Unvorstellbare“. Jahrzehnte habe man gedacht, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe. Man habe sich immunisiert und nichts in die Personalakten eingetragen. Den Kirchenleitenden hätte Kategorien und Sprache gefehlt. Es hätte aber auch an Interesse gemangelt, eine Sprache für den Umgang mit Betroffenen zu finden. „Die Rechtfertigungslehre löst nur Täterprobleme. Sie rückt die Sünder vor Gott in den Mittelpunkt. Irdische Wiedergutmachung und Genugtuung kennt sie nicht.“ Zippert verwies auf die „Tradition“ der EKD. Nach 1945 habe es Stimmen gegeben, die die Nazi-Gräuel für so unvorstellbar gehalten hätten, dass darüber kein weltliches Gericht richten können. „Man vergibt den Sündern.“ Zippert mahnte einen hochseriösen Umgang mit der Studie an: „Was wurde bestätigt? Was wurde widerlegt? Was ist hinzugekommen?“
Pfarrer Christoph Rollbühler und Claudia Keller von der Gemeinde der Christuskirche im Belgischen Viertel stellten den Arbeitskreis vor, den sie zu dieser Thematik mitgegründet haben. Es war der Satz einer älteren Dame, der alles ins Rollen gebracht hat. „Ich mache mir immer noch Vorwürfe, dass meine Tochter bei ihm Unterricht hatte“, hat sie Rollbühler erzählt. „Er“, das war der damalige Pfarrer. Der damalige Stadtsuperintendent Rolf Domning hat Rollbühler gesagt: „Bleib an dem Thema dran.“ Man habe das Presbyterium informiert und die Landeskirche. „Die Personalakte liegt schon auf unserem Schreibtisch, wegen Vorfällen in einer anderen Gemeinde.“ Es sei eine schräge Situation gewesen, erinnerte sich Rollbühler: „Man sägt an dem Ast, auf dem man sitzt.“ Wie aufbereiten, wie öffentlich aufarbeiten, habe man sich gefragt. „Gottesdienste zum Thema Missbrauch waren nicht sehr beliebt.“ Bei den Katholiken habe man den Eindruck, man pralle an einer Betonwand ab. Bei den Protestanten sei es eher eine Schaumgummiwand. Es werde viel geredet, es komme aber nichts zurück. Schließlich habe sich eine Betroffene gemeldet. „Denn vorher hatten wir einen Täter, aber kein Opfer.“
Superintendent Markus Zimmermann aus dem Kirchenkreis Köln-Nord verlangte an dem Abend, „dass alles auf den Tisch muss“. Die Aussagen der Studie haben ihn nicht überrascht. „In den Dimensionen aber schon.“ Im Theologiestudium habe das Thema keine Rolle gespielt. Eine liberale Sexualmoral habe dazu beigetragen, dass Grenzen überschritten wurden. Der Superintendent forderte, dass Untersuchungen bei Missbrauchsverdacht extern geführt werden müssen, von Staatsanwaltschaften. „Wir dürfen nichts wegdrücken. Wir sind alle befangen“, sagte er weiter. Und auch die Theologie müsse sich fragen lassen: „Was ist da in den vergangenen Jahren gelehrt worden?“ Thomas Zippert riet ebenfalls, Experten von außen dazu zu holen. In Kurhessen-Waldeck hat er pensionierte Polizisten engagiert. „Die kennen sich aus mit Aktenlesen. Die merken sofort, wenn etwas fehlt.“
Die ForuM-Studie der EKD finden Sie hier: www.forum-studie.de
Informationen zum Schutzkonzept des Evangelischen Kirchenverbandes Köln und Region und die entsprechenden Ansprechpersonen sind hier hinterlegt.
Weitere Ansprechpersonen finden Sie auf der Internetseite der Ansprechstelle der Evangelischen Kirche im Rheinland oder bei der Zentralen Anlaufstelle der EKD:
Text: Stefan Rahmann
Foto(s): Stefan Rahmann
Der Beitrag Aus der „ForuM-Studie“ Konsequenzen ziehen: Veranstaltung der Melanchthon-Akademie im Haus der Evangelischen Kirche erschien zuerst auf Evangelischer Kirchenverband Köln und Region.